Arzt für Kinder- und Jugendmedizin, Neonatologe, Dipl. Biologe,
Asthmatrainer, Psychosomatik, Reisemedizin, Gelbfieberimpfstelle
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Stellungnahme des Bundesinstituts für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin vom 28. Mai 2002
Nitrofen (2,4-Dichlorphenyl-4'-nitrophenylether, Summenformel C12H7O3Cl2N, CAS-Nummer 1836-75-5) ist ein 1964 auf den Markt eingeführter, in der Bundesrepublik Deutschland aber seit 1980 nicht mehr in zugelassenen Pflanzenschutzmitteln enthaltener herbizider Wirkstoff. Er wurde seinerzeit als Bestandteil verschiedener Pflanzenschutzmittel (Kombinationspräparate) zur Bekämpfung ein- und zweikeimblättriger Unkräuter insbesondere in Winterweizen, aber in anderen Ländern auch in einer Reihe anderer Kulturen (z.B. im Gemüsebau und im Reis), eingesetzt. Der damalige wichtigste Hersteller, eine US-amerikanische Firma, hat den Wirkstoff aufgrund gesundheitlicher Bedenken, insbesondere wegen krebserzeugender (kanzerogener) und fruchtschädigender (teratogener) Effekte bei Versuchstieren, im Jahre 1980 freiwillig vom Markt genommen und ist damit einem behördlichen Verbot zuvorgekommen. Eine Risikobewertung durch den Hersteller nach den damals ¸blichen Kriterien hatte ergeben, dass sehr niedrige Grenzwerte für die Verbraucherexposition über Rückstände festgelegt werden müssten, die bei den in der landwirtschaftlichen Praxis notwendigen Aufwandmengen unter keinen Umständen eingehalten werden könnten.
Nach Angaben der International Agency for Research on Cancer (IARC, 1983) ist Nitrofen zu dieser Zeit außerdem noch in Japan (bis 1981), in Frankreich, in Taiwan und in der DDR produziert worden. Laut geltender Pflanzenschutz- Anwendungsverordnung besteht in Deutschland seit 1988 ein vollständiges Anwendungsverbot. Mit dem Verbot wurde die Richtlinie des Rates 87/181/EWG vom 09. März 1987 zur Änderung des Anhangs der Richtlinie 79/117/EWG über das Verbot des Inverkehrbringens und der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln, die bestimmte Wirkstoffe enthalten, in nationales Recht umgesetzt. über eine eventuell fortdauernde Produktion und Anwendung außerhalb der EU bzw. OECD liegen dem BgVV keine Informationen vor. Es sind aber bis in die letzten Jahre hinein noch in verschiedenen Staaten (USA, Frankreich, Japan) wissenschaftliche Studien zu speziellen Fragestellungen publiziert worden, in denen Nitrofen als Modellsubstanz zur Untersuchung von Schadwirkungen auf das Hormonsystem und insbesondere teratogener sowie mutagener Effekte verwendet wurde. Der Wirkstoff war somit zumindest für wissenschaftliche Zwecke noch verfügbar.
Eine umfassende toxikologische Bewertung des Wirkstoffes ist im Jahre 1983 sowohl durch ein gemeinsames Expertengremium der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO und der Weltgesundheitsorganisation (FAO/WHO, 1983) als auch von der International Agency for Research on Cancer (IARC, 1983) vorgenommen worden. Die Mehrzahl der mit Nitrofen durchgeführten toxikologischen Studien stammen aus den 60er und frühen 70er Jahren und entsprechen in ihrer Qualität nicht den heutigen Anforderungen. Die jüngste der dem BgVV vorliegenden Veröffentlichungen zu wissenschaftlichen Untersuchungen unter Verwendung von Nitrofen stammt aus dem Jahre 1995.
Nitrofen wird nach oraler Verabreichung nur teilweise aus dem Darm absorbiert, weitgehend metabolisiert und innerhalb von 96 h vorrangig über den Stuhl (>75%) und nur zu einem geringen Teil (<15-20%) im Urin ausgeschieden. Es erfolgt eine Verteilung in viele Organe und Gewebe; die mit Abstand höchsten Rückstände wurden im Fettgewebe gemessen.
Nitrofen ist von mittlerer akuter Toxizität bei oraler (LD50, Ratte: 740 mg/kg Körpergewicht) und geringer Toxizität bei dermaler und inhalativer Exposition, hat sich aber als haut- und augenreizend erwiesen.
Aus mehreren Untersuchungen geht hervor, dass Nitrofen im Ames-Test an Bakterien mutagen wirkte (Punkt- oder Genmutationen). Im Unterschied dazu erwies sich der Wirkstoff in einer Reihe anderer Testsysteme, u.a. in Säugerzellen und in Tierversuchen, konsistent als negativ, so dass keine definitiven Aussagen zum mutagenen Potential von Nitrofen gemacht werden können.
Es liegen Langzeitstudien an Ratten und Mäusen vor. Nitrofen hat sich in beiden Spezies als krebserzeugend erwiesen.
Bei Mäusen (Stamm B6C3F1) wurde in zwei separaten Studien über jeweils 18 Monate eine deutlich erhöhte Inzidenz von Lebertumoren festgestellt.
Bei den männlichen Tieren ergaben sich in der ersten Studie darüber hinaus Hinweise auf eine erhöhte Inzidenz von bösartigen Tumoren, die ihren Ausgang von den Wänden der Blutgefäße nahmen (Hämangiosarkome) und in der Leber, der Milz und der Bauchhöhle gefunden wurden. Dieser Befund konnte allerdings in der zweiten Studie und generell bei den weiblichen Tieren nicht bestätigt werden.
In einer Studie an Osborne-Mendel-Ratten wurde bei den weiblichen Tieren dosisabhängig ein vermehrtes Vorkommen eines bei dieser Tierart sehr selten auftretenden Adenokarzinoms des Pankreas festgestellt (0/130 bei den Kontrolltieren; 2/50 in der niedrigen Dosis von 1300 mg/kg Futter, ca. 65 mg/kg Körpergewicht /d, und 7/50 bei 2600 mg/kg Futter, ca. 130 mg/kg Körpergewicht /d). Bei Ratten eines anderen Stammes (Fischer 344) war die Tumorhäufigkeit jedoch nicht erhöht.
In einer Mehrgenerationenstudie an Ratten wurden bei Dosierungen ab 100 mg/kg im Futter (ca. 6,7 mg/kg Körpergewicht/d) eine Zunahme von Totgeburten und insbesondere eine erhöhte postnatale Sterblichkeit der Nachkommen festgestellt. Bei Nitrofen-Konzentrationen ab. 10 mg/kg im Futter (ca. 0,67 mg/kg Körpergewicht/d) ergaben sich Hinweise auf eine verminderte Konzeptionsrate.
Nitrofen zeigte bei Ratten und Mäusen fruchtschädigende (entwicklungs- schädigende) Wirkungen.
Bei Mäusen wurden Hydrocephalus und Mikrophthalmie beobachtet, darüber hinaus Gaumenspalten und eine verzögerte Skelettentwicklung. Eine Dosis ohne erkennbare schädliche Wirkung (NOAEL; No Observed Adverse Effect Level) für fruchtschädigende Wirkungen konnte nicht festgestellt werden, da auch in der niedrigsten geprüften Dosis von 6,25 mg/kg Körpergewicht/d noch das Gewicht verschiedener Organe reduziert war.
Bei Ratten traten bei einmaliger Verabreichung von 150 mg/kg Körpergewicht/d am 11. Tag der Trächtigkeit Missbildungen wie Deformationen des Herzens, Hydronephrose und insbesondere Zwerchfellausbuchtungen (Hernien) auf. Die mehrfache Verabreichung kleinerer Dosen führte ebenfalls zu entsprechenden Missbildungen. Eine Dosis ohne erkennbare schädliche Wirkung (NOAEL) konnte nicht festgestellt werden, da auch in der niedrigsten geprüften Dosis von 0,3 mg/kg Körpergewicht/d die Häufigkeit von Nierenbeckenerweiterung bzw. bei einer Dosis von 1,39 mg/kg Körpergewicht/d die Häufigkeit von Zwerchfellhernien erhöht war.
Die verminderte Lebensfähigkeit der Nachkommen bei beiden Spezies scheint vorrangig mit einer Verzögerung der Lungenreifung (Hypoplasie der Lungen) im Zusammenhang zu stehen. Die Wirkungen insbesondere auf das Zwerchfell und die Lungen sind so spezifisch, dass Nitrofen als positive Referenzsubstanz für die Untersuchung entsprechender Fragestellungen Verwendung findet.
Bei der Anwendung Nitrofen enthaltender Pflanzenschutzmittel im Getreideanbau wurden, auch bei höheren Aufwandmengen als in Deutschland seinerzeit zugelassen, im Getreidekorn keine nachweisbaren Rückstände bei einer Bestimmungsgrenze von 0,01 mg/kg gefunden.
Nach sehr alten, nur als Zusammenfassung verfügbaren Fütterungsstudien an Geflügel über 10 Wochen mit radioaktiv markiertem Nitrofen in Dosierungen von 0,04, 0,12 und 0,47 mg/kg Futter wurde in Eiern nach 6 Wochen ein Rückstandsplateau von 0,02, 0,05 und 0,17 mg/kg gefunden. Der Hauptrückstand befand sich im Eigelb. Nach dem Schlachten der Tiere konnten in der untersten Dosierung in weißem Fleisch keine Rückstände, in Fett aber 0,18 mg/kg nachgewiesen werden. Da nur die Radioaktivität gemessen wurde, kann nicht gesagt werden, ob der Rückstand aus dem unveränderten Nitrofen und/oder aus Metaboliten bestand.
Es lässt sich daraus aber eindeutig ableiten, dass bei nachweisbaren Nitrofenrückständen in Futtermitteln Rückstände in Geflügel einschließlich Eiern nicht auszuschließen sind.
In den vorliegenden toxikologischen Untersuchungen, die in ihrer Qualität nicht den heutigen Anforderungen entsprechen, sind keine Dosierungen ohne erkennbare schädliche Wirkung in Hinsicht auf die reproduktionstoxischen und teratogenen sowie auf die krebserzeugenden Eigenschaften von Nitrofen ermittelt worden. Aus diesem Grunde ist es bei dem derzeitigen Kenntnisstand nicht möglich, eine Dosis ohne erkennbare schädliche Wirkung für den Menschen bzw. Grenzwerte für die akute Exposition (ARfD; Acute Reference Dose) oder die chronische Exposition (ADI; Acceptable Daily Intake) abzuleiten.
Bei der dem BgVV bis heute mitgeteilten höchsten Rückstandskonzentration von Nitrofen von 0,8 mg je kg in Putenfleisch besteht unter Zugrundelegung einer täglichen Verzehrsmenge von 300 Gramm und eines Körpergewichts von 60 kg ein unzureichender Sicherheitsfaktor zu der niedrigsten Dosis im Tierversuch, bei der noch schädliche Effekte auftraten.
Daher sind alle Maßnahmen zu ergreifen, um die Quellen für Rückstände in Futtermitteln aufzudecken und sicherzustellen, dass kontaminierte Futtermittel nicht mehr zur Verwendung sowie Lebensmittel mit nachweisbaren Nitrofenrückständen nicht zum Verbraucher gelangen.
FAO/WHO (1983): Pesticides residues in food. Joint meeting of the FAO panel of experts on pesticide residues in food and the environment and the WHO expert group on pesticide residues; Geneva, 5-14 December 1983. FAO plant production and protection paper 61, Rome, 1985.
IARC (1983): IARC monographs on the evaluation of the carcinogenic risk of chemicals to humans. Vol. 30, IARC, Lyon, 1983.