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Artikel  aus der SZ vom 27.12.2002

Weise in der Wiege

Zuhören macht Kinder schlau: Ein Plädoyer fürs Vorlesen

In DDR-Klassenzimmern hing einst der Spruch "Lernen, Lernen, nochmals Lernen." Er wurde Lenin zugeschrieben. Vielleicht sollte nach Pisa die Ergänzung "Lesen, Lesen, nochmals Lesen" die Wände sämtlicher deutscher Klassen zieren. Lesen ist ein Grundhandwerkszeug, das als "Türöffner" (Jürgen Baumert) für alle weitere Bildung gilt. An dieser Basiskompetenz aber mangelt es bei so vielen getesteten 15jährigen. Und die Unfähigkeit, sinnvoll zu lesen, unter der fast jeder vierte Jugendliche leidet, ist keine Krankheit, die sich bald heilen lässt. Wer mit 15 Jahren nur mit Mühe den Sinn des Gelesenen erfasst, liest mit 25 meist gar nicht mehr und wandert ab ins funktionale Analphabetentum, wo sich schon ein paar Millionen Mitbürger tummeln.

Die Debatte nach Pisa hat zunächst vor allem deutsche Hysterie gezeitigt und dann mengenmäßig Absichtserklärungen. Mittlerweile sind sämtliche Kassen leer, Büchereien werden geschlossen, Deutschkurse gekippt. Die Hoffnung auf Besserung der Lesefähigkeit durch innovative Programme für die Kleinsten, für die Benachteiligten deutscher wie fremdländischer Herkunft schwindet täglich. Dabei kann man Lesen und die Lust am Lesen so leicht anschieben, auch ohne teure Sonderprogramme und Sonderlehrer - schlicht durch Vorlesen.

Vorlesen kann man schon halbjährigen Kindern. Man braucht nur ein passendes Buch, und man sollte selber lesen können. Früher wurde Kindern vorgelesen: von Müttern beim Zubettgehen, von Großmüttern im Lehnsessel, von Kindergärtnerinnen. Und heute? Vorlesen ist der Zeitarmut und der aufgelösten Familie ebenso zum Opfer gefallen wie pädagogisch angeblich wertvolleren Beschäftigungen.

"Wenn wir unsere Eltern dazu bewegen könnten, ihren Vorschulkindern täglich nur 15 Minuten vorzulesen, könnten wir die Schulen revolutionieren", notierte schon vor zwanzig Jahren Ruth Love, damals Leiterin der Schulbehörde von Chicago. Das war auch in Amerika einmal ganz anders. John Adams beobachtete 1765, dass im puritanischen Neu-England "ein Amerikaner, der nicht lesen oder schreiben kann, eine so seltene Erscheinung ist wie ein Komet oder ein Erdbeben." Grund für derlei Kompetenz der amerikanischen Vorväter war die tägliche Bibellesung in der Familie - von der Wiege bis zur Bahre. Lang vorbei sind solch lesefördernde familiäre Erlebnisse fast überall, wie viele Studien (nicht erst OECD und Pisa) belegen.

Glückliche Wende

Die Forschung verblüfft uns seit einigen Jahren mit den Talenten der Allerkleinsten, der "Wissenschaftler in der Wiege" ("The Scientist in the Crib" von Allison Gopnik et al.). Einmonatige Babys können die Laute sämtlicher Sprachen der Welt erkennen. Etwa mit neun Monaten verliert sich diese Fähigkeit. Mit zwei Jahren, wenn sie noch längst nicht die Schuhe zubinden können, unterscheiden sie bereits klar einen grammatischen von einem ungrammatischen Satz. Ihre sprachliche Grundbildung beginnt also lange bevor sie reden, geschweige denn schreiben oder lesen können. Das hat vor allem mit Interaktion zu tun und dem Vergnügen, das Babys als Unterhalter ihrer Umwelt haben. So spritzen sie ihre Eltern nass und amüsieren sich königlich über deren verdutzte Gesichter.

Was ist mit so vielen kleinen Kindern zwischen Geburt und Sekundarstufe I passiert, dass sie so ganz und gar die Lust am Lautsprachlichen verlieren und in Spracharmut verfallen?

Man hat zu wenig mit ihnen gespielt, gesungen, gereimt, sich nicht von ihnen erzählen lassen oder ihnen erzählt. Vor dem Fernseher entwickeln Kinder ihre Talente nicht. Dort verfällt ihre Sprachkompetenz, wird ihre Phantasie zugeschüttet. Je mehr man mit ihnen plaudert, spielt oder liest, desto mehr blühen sie auf. So haben nach einer Studie der University of Chicago 20 Monate alte Kinder von redseligen Müttern im Schnitt 131 mehr Wörter in ihrem Wortschatz als Kinder von eher maulfaulen Müttern. Im Alter von zwei Jahren hat sich diese Kluft bereits auf 295 Wörter ausgedehnt. "Die Entwicklung der sprachlichen Grundbildung", mutmaßt die englische Forscherin Marian Whitehead, "muss abhängig sein von der Entwicklung einer Basis gemeinsamer Bedeutungsinhalte und Kommunikation mit Anderen, und zwar noch bevor Wörter und Schreiben eine Rolle spielen."

Das Vorlesen scheint genau diese Basis gemeinsamer Inhalte auf kommunikative Weise zu fördern. So hat ein Forschungsprojekt mit dem Namen "Bookstart", das in der englischen Stadt Birmingham durchgeführt wurde, erstaunliche Ergebnisse gebracht. Die Eltern von zufällig in Kliniken und bei Kinderärzten ausgewählten neun Monate alten Säuglingen erhielten zu Beginn ein Paket mit Bilderbuch, Poster und Kinderreimen sowie Anweisungen, wie man selbst mit kleinsten Kindern die öffentlichen Büchereien nutzen kann. Regel mäßig wurde die Steigerung des sprachlichen Interesses der Babys getestet ebenso wie die Begeisterung ihrer Familien für Bücher und Bibliotheken. Der Enthusiasmus der Kinder wuchs und wuchs und ließ auch nach der Einschulung nicht nach. Die frühe Begegnung mit dem Buch zahlte sich freilich nicht nur im Spracherwerb aus, sondern zeigte langfristig Wirkung auf das Erlernen des Lesens wie auch auf das mathematische und naturwissenschaftliche Denken.

Das unterstreicht die Rolle der Eltern und anderer Erziehungspersonen im Bildungsprozess. Es belegt aber auch die Pisa-Diagnose, dass mangelnde Lesekompetenz ihre Fortsetzung in schlechten mathematischen und naturwissenschaftlichen Leistungen findet. "Bookstart" ist ein wohlfeiler Weg , einen guten Start ins Lesen und in die Schule auch Kindern aus bildungsfernen Schichten zu ermöglichen. Wichtig ist freilich, die richtigen Bücher für das jeweilige Alter zu wählen.

Sehr kleine Kinder etwa können komplizierte Zeichnungen nicht erkennen. Der Weg geht vom Bilderbuch, zu Geschichten und Erzählungen und langsam zum Roman. Kleine Kinder lieben Reime, Zungenbrecher, Abzählverse, Schlaflieder. Oxforder Psychologen haben bei 3-4jährigen einen Zusammenhang zwischen einer Sensibilität für Stab- und Endreime und frühem Lesenlernen gefunden. "Es hat ganz den Anschein", so Marian Whitehead, "dass Kinder, die über gute Fähigkeiten zum Reimen verfügen, sehr früh in der Lage sind, Strategien für ihre Lese- und Ausdrucksfähigkeit zu entfalten."

Vorlesen ist zunächst kein Instrument zum Lesenlernen, sondern zum Zuhören und zur Konzentration. Freilich soll es in dem Kind den Wunsch entstehen lassen, (irgendwann) selber lesen zu wollen. Routine und Regelmäßigkeit sind unabdingbar, eine viertel Stunde morgens vor der Schule oder abends vor dem Zubettgehen und interessante Bücher, die die Kleinen und Kleinsten fesseln und ihre Phantasie beflügeln. Kindern, denen nicht vorgelesen wird und denen keiner Geschichten erzählt, fehlen die Gründe, selbst das Lesen lernen zu wollen. So wie diejenigen, denen keiner die Fragen beantwortet, aufhören, Fragen zu stellen.

Die Körber Stiftung hat in ihrem transatlantischen Ideenwettbewerb "USable" ein Berliner Vorleseprojekt ausgezeichnet. Es befindet sich mitten in Kreuzberg und macht dort Kindern und Eltern aus lesefernen Gruppen das Abenteuer des Vorlesens schmackhaft. Bei "Lesewelt e.V." lesen etwa 80 freiwillige Vorleser in zwanzig Büchereien hunderten von Kindern vor. Auch in einem sozialen Brennpunkt Hamburgs wird derzeit ein Lesewelt-Projekt aufgebaut. Neue Studien sind fürs Vorlesen nicht nötig, Kommissionen auch nicht. Die Folgen des Vorlesens sind längst erforscht und privat überall dort belegt, wo vorgelesen wird.

Roald Dahl, ein großer Zauberer der Kinderliteratur, hat in dem Essay "Lucky Break" seinen eigenen Weg zum Buch geschildert. Dahl hasste die Schule, seine Lehrer bestätigten ihm Ideenmangel und nannten ihn einfach unfähig. Die Wende kam in Gestalt einer Vorleserin, einer Frau aus der Nachbarschaft, die die Schuljungen beaufsichtigen sollte, während die Lehrer in der Kneipe weilten. Diese Frau erschloss den Kindern das Universum der englische Literatur. Plötzlich wurde die Schulwoche erträglich, weil am Samstag die Vorleserin kam. Innerhalb eines Jahres war aus Dahl ein unersättlicher Leser geworden - aus dem ein Schreiber werden sollte, der einige der besten Vorlesebücher der Welt geschrieben hat.

Wie viele Kinder erfahren diese Erweckung ihrer Phantasie nie, weil kein Vorleser ihren Verstand und ihr Herz berührt? Die Kinder, die so abwesend scheinen, vielleicht warten sie nur darauf, dass man ihnen vorliest. Eltern, Lehrer und Erzieher sollten sie nicht länger warten lassen. Lest ihnen vor - gleich!

CHRISTINE BRINCK

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